Ist Laufen Beten? Spirituelle Dimensionen sportlicher Aktivität und (neuro-)physiologische Dimensionen christlicher Spiritualität

Publikation: Buch/BerichtMonografieForschungBegutachtung

Abstract

„Ideale Übungen sind diejenigen, die sowohl den Körper als auch den Geist einbeziehen und stärken. Nur solche Übungen können den Menschen gesund erhalten" (Mahatma Gandhi).
"Vor allem wegen der Seele (griech: ψυχή) ist es notwendig, den Körper zu üben, und das ist es, was unsere Klugschwätzer nicht einsehen wollen" (Jean-Jaques Rousseau).
„Für die Wahrnehmung und Reflexion religionskultureller Bewegungsphänomene ist die christli-che Theologie traditionellerweise schlecht gerüstet. Das hängt mit tief sitzenden Vorbehalten gegenüber den Bereichen der Sinnlichkeit und Leiblichkeit sowie mit methodischen Wahrneh-mungsschwächen eines auf historische und dogmatische Texte fixierten Wissenschaftsver-ständnisses zusammen. Wer etwa unter den Stichworten Religion und Bewegung zu recher-chieren beginnt, stößt nur sehr vereinzelt auf Phänomene körperlicher Bewegung, dagegen sehr viel öfter auf die Kombination (neue) religiöse Bewegungen, charismatische Bewegungen, oder ökumenische Bewegung. Religion, bzw. religiöse Bewegung scheint in der Theologie zu-nächst gerade kein sinnlich-körperliches Phänomen zu sein, sondern ein Phänomen der religiö-sen Vergemeinschaftung und einer mehr oder weniger gut gelingenden kirchlichen Institutiona-lisierung. Bewegt – so scheint es auf den ersten Blick – werden in der christlichen Religion vor allem Seelen, der Leib dagegen bleibt weithin unbewegt. [...] Eine Theologie des christlich-religiös bewegten Lebens hat deshalb die anthropologischen Grundphänomene leiblicher Be-wegung nicht nur als Funktionen einer permanenten religiösen Aufbruchsstimmung, sondern vor allem auch als elementare Phänomene einer am christlichen Geistbegriff orientierten Spiri-tualität zu betrachten“ (Buntfuß 2009).
Seit Avery Brundage, damals Präsident des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), 1964 die moderne Olympische Bewegung als „Religion des 20. Jahrhunderts“ bezeichnete (Hörrmann 1968, S.22) ist das Themenfeld Theologie und Sport vermehrt ins Blickfeld theolo-gischer Betrachtungen geraten. Eine Annäherung und gleichzeitig Ablehnung des Sportgedan-kens erfolgt hier jedoch vornehmlich aus ritueller bzw. kultischer Sicht. Heute ist das Themen-feld Theologie und Sport aber noch aus einem zweiten Blickwinkel von Interesse: bedingt durch weit reichende Veränderungen in den Lebens- und Arbeitsbedingungen ist in den vergangenen Jahren eine zunehmende Individualisierung des Sports feststellbar. Der soziale Charakter des Sports, die gemeinsame „Freude an der Bewegung“, wie er sich in den Sport- und Turnvereinen präsentierte, geht mehr und mehr verloren und wird ersetzt durch ein Streben nach Fitness, an der individuell gearbeitet wird. Fitness umfasst dabei aber nicht mehr nur den körperlichen As-pekt, sondern wird häufig gleichgesetzt mit sozialem, beruflichem und privatem Erfolg. Dies spiegelt sich u.a. wider in einer fast inflationären Zunahme an Trainingsempfehlungsliteratur. Diese bedient, bewusst oder unbewusst, auch eine spirituelle Ebene. Dies gilt insbesondere dort, wo das am eigenen Leib erfahrene, ästhetische Sportglück den (sehr skeptisch zu be-trachtenden) Rang eines Heilsereignisses besitzt oder zugewiesen bekommt. Ulrich Strunz bei-spielsweise formuliert in seinen Büchern des Öfteren den „neuen Menschen“ und die „ewige Jugend“. Mal durch Laufen (Strunz 2000), durch Muskeltraining (Strunz 2006), oder durch Er-nährung (Strunz 2001). Bewegung wird hier nicht mehr nur aus präventivmedizinischer, sondern immer mehr auch aus lebensphilosophischer Sicht gesehen. Konkret zu Ende gedacht und etwas überspitzt dargestellt werden hier Heilsversprechen gegeben. Ein User namens _axel beispielsweise formuliert es im Internet-Forum „Lauftreff.de“ wie folgt: „... nach Deinem ersten Marathon [...] bist Du praktisch ein neuer Mensch“ ; auf http://die-fitness-diaet.de/ heißt es zur Slow Carb Diät : „Mache ein Vorher-Nachher-Foto von Dir und Du wirst staunen, wie in kürzester Zeit ein neuer Mensch aus Dir wird.“; Ulrich Strunz suggeriert in seinen Büchern immer wieder: „Laufe, und Du wirst ein neuer Mensch“. Obgleich all diese Versprechen natürlich auf ein Diesseits gerichtet sind und transzendente Bezüge vermissen lassen, impliziert allein die Be-nutzung religiös besetzten Vokabulars eine gewisse Erlösungserwartung (von Stress, Sorgen etc.) bzw. Heilserwartung (im Job, der Partnerschaft etc.) beim Rezipienten und sorgt bei ungenügend genauer Betrachtung der Materie zu einer reflexiven Hinwendung. Unzweifelhaft kommt es im und durch Sport neben den reinen physiologischen Veränderungen auch zu psychologischen Effekten wie einer Verbesserung der kognitiven Leistungsfähigkeit, Stressbewältigung und -resistenz (Dimeo, Bauer, et al. 2001; Knubben, Reischies, et al. 2007; Schneider, Askew, et al. 2009; Tomporowski 2003; Yeung 1996), jedoch stellen diese im theologischen Sinne kein Heil dar – sind aber, und diesem Gedanken möchte ich folgen, unmittelbare Voraussetzung der Wahrnehmung des Menschen seiner selbst als Leib-Seele Einheit. Im Sport – und ich möchte mich in dieser Arbeit auf das Laufen konzentrieren – stellt sich ein Einklang mit der Umgebung, ein Flow-Gefühl, ein. Der Kopf wird leer gefegt, die Sinne werden geschärft. Kognitive und emotionale Belastungen werden in der und durch die Bewegung ausgeschaltet. Im nicht wettkampfbetriebenen, mit intrinsischer Motivation betriebenen Sport, spiegelt sich das archaisches Grundbedürfnis des Menschen nach Bewegung.
Interessanterweise finden sich auf rein physischer Ebene in der Rekreationsphase (von lat. re-creare = von neuem schaffen, neu schöpfen) nach sportlicher Aktivität ähnliche hormonelle und neurophysiologische Veränderungen, wie sie sich nach Meditation finden lassen (siehe Kapitel 2). Demnach ist zu fragen, inwieweit Sport – konkret das Laufen – tatsächlich eine spirituelle Sehnsucht bedient. Laufen ist, ähnlich wie das Gebet, ein Erlebnis, manchmal gar im Sinne einer Grenzerfahrung. Auch besteht ein Zusammenhang des Sports mit universellen Glückskonzepten. Csikszentmihalyi (1990) erkennt in den postmodernen Gesellschaften das Bestre-ben und die Eigenschaft über die „Erlebnisorientierung“ die Suche nach Glück und Sinn zu stillen. Sport kann demnach das immer vorhandene Bedürfnis nach Sinn und Glück im menschlichen Leben stillen – je nachdem, mit welchem Zugang Spiel und Sport betrieben werden. Ganz entscheidend ist hierbei die Frage nach intrinsischer oder extrinsischer Motivation. Wie noch zu zeigen sein wird, wird lediglich eine intrinsische Motivation zu einem Flow-Erleben führen können, gleichwohl eine extrinsische Motivation (z.B. ärztlich verordnete Gewichtregulation) langfristig auch ein intrinsisches Bedürfnis auslösen kann. Neben dem Flow-Erlebnis und dem „Runners High“ kann der Sport im „holistischen Glückskonzept“ als „Sprache des Leibes verstanden werden“ (Hübenthal 1998). Sport und Bewegung sind danach besondere Formen, „in denen Menschen ihre individuelle, identitätsstiftende Geschichte zu erzählen versuchen“ (Hübenthal 1998).
So kritisch die christlichen Religionswissenschaften und die Praktische Theologie das Sporttreiben, das an Leistungsmaximierung oder an ein auf körperliche Elemente reduzierten Fitnessgedanken aufgehängte Ideal auch – zu Recht – kritisieren mögen, im Kern ist Sport, ist Bewegung im Menschen verankert. Denn der Mensch ist als Bewegter gedacht. Unser Körper lechzt, evolutionsbiologisch nach Bewegung. Und wenn dann alles im Fluss ist, verschiedene Systeme miteinander synchronisiert und im Einklang sind, wenn wir auf einmal richtig „ticken“, wenn die Gedanken driften können und die Physis arbeiten darf, dann ist das ein sehr archaischer, spiri-tueller Moment. Spirituelle Erlebnisse schenken uns den Raum und die Freiheit, über uns hinaus auf eine bedeutendere Wirklichkeit zu sehen, gleichzeitig haben spirituelle Erlebnisse un-mittelbare Auswirkungen auf die Lebensführung und ethischen Vorstellungen. Selbst wenn man der These Hamers (Hamer 2006), Spiritualität sei genetisch im Menschen angelegt, kritisch begegnet, wird man nicht leugnen können, dass sich der Mensch, die Menschheit schon immer und immer wieder mit der Frage nach einem Höherem beschäftigt hat. Per se muss eine Religi-on für sich beanspruchen, den alleinigen Zugang zu diesem Höheren zu haben und sich dem-nach einer Vereinnahmung durch andere Religionen, auch Trendreligionen wie der Fitness, entgegenstellen. Gleichwohl wird eine rein dogmatische Herangehensweise eher Gräben vertiefen als diese zuschütten, insbesondere dort, wo nur ein begrenztes Verständnis der Unterschiede geistes- wie naturwissenschaftlicher Zugänge existiert. Ich möchte in dieser Arbeit da-her einen integrativen und multidisziplinären Ansatz verfolgen, wobei aus Sicht der Sportwissenschaften ein geisteswissenschaftlicher Bezug, aus Sicht der Praktischen Theologie ein na-turwissenschaftlicher Bezug im Vordergrund stehen soll. Dabei werde ich in manchen Bereichen nur an der Oberfläche bleiben können, sei es aus mangelndem Wissen, mangelndem Verständnis oder einfach nur weil alles andere den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde.
OriginalspracheDeutsch
Seitenumfang192
PublikationsstatusVeröffentlicht - 2013

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