Motorische Strategien der Bewegungskontrolle in Improvisationsprozessen

Project details

Research objective

Die vorgestellte Studie will mittels einer doppelperspektivischen experimentellen Beleuchtung der Improvisation (Bewegungsanalyse und Befragung) der Frage nachgehen, welche Rolle Strategien bewusst-willentlicher Kontrolle der Bewegungsausführung erstens für die Bewegungsqualität im Sinne von Bewegungsfluss und -ökonomie und zweitens für das Aufnehmen/Erlernen neuer Bewegung spielt.
Ausgangspunkt der Fragestellung ist die Zusammenschau von einerseits theoretischen Studien zur Modellierung menschlicher Bewegung in ihrem Prozesscharakter (Temme 2015; Schürmann & Temme 2015; auch Hossner 2015) und andererseits von Befunden dreier experimenteller Studien zur Bedeutung volitionaler Kontrolle für gelingende Schreibmotorik (Mai & Marquardt 1996), zur Aussetzung exekutiver Kontrollfunktionen in gelingender musikalischer Improvisation (Limb & Braun 2008) sowie zur Qualität der Bewegungsanpassungen und des Bewegungsflusses in Gruppenimprovisationen im Unterschied zu einem Führen und Folgen (Noy et al. 2011). Vorgestellt wird ein Untersuchungsansatz, der in der Lage ist zu erkunden, wie sich bewusst oder unbewusst in Anspruch genommene Strategien der Kontrolle der Bewegungsrealisation in den körperlichen Bewegungsvollzügen jeweils manifestieren. Die sich aus der Befundlage ergebende Hypothese ist, dass Strategien der volitionalen Kontrolle und Durchlenkung der Bewegungsausführung das Gelingen von Bewegungen bzw. zu erlernender Bewegungen entgegen dominierender Sichtweisen gerade nicht erst ermöglichen, sondern vielmehr stören und demgemäß auch in Kontexten des Bewegungslernens zu vermeiden sind.

Paradigmatisches Feld sowohl für die Frage der Entwicklung neuer Bewegungen im Sinne einer Bewegungskreativität als auch für die Frage der Bedeutung der Kontrolle von Bewegungen ist die Improvisation. Zwei Funktionen, die dem Improvisieren zugordnet werden können, sind für vorliegende Untersuchung relevant: Mit der Improvisation im Tanz wie in der Musik oder dem Sprechtheater wird hauptsächlich das Entwickeln neuer Bewegungen oder Bewegungstechniken bzw. Rhythmen oder Texten verbunden. Von gleicher Wichtigkeit für vorliegende Untersuchung ist eine zweite Funktion, die dem gemeinsamen Improvisieren in der didaktischen Konzeption des Elementaren Tanzes zukommt: Das gemeinsame Improvisieren zu zweit oder in der Gruppe dient dem Einzelnen explizit auch als Medium des Erlernens von Bewegungstechniken. Erlernt werden Bewegungstechniken hier quasi im Nebenbei des Prozesses der dynamische Anpassung, der sich damit eher als impliziter Lernprozess realisiert. Im Gegensatz zu einem reinen Vormachen-Nachmachen mit einen festen Bewegungsvorgeber wechseln in einem gemeinsamen Improvisieren die Rollen des Erfindens und des Sich-Einfügens in nicht selbstgestaltete Bewegungen ständig und fließend ab.

Forschungsstand und theoretischer Zugriff
Angeführt sei zunächst die Studie zur Schreibmotorik von May & Marquardt (1996): Ausgangspunkt der Autoren ist die Beobachtung von Störungen der Schreibmotorik von Multiple-Sklerose-Patienten, die beim Schreiben, jedoch nicht bei schreibähnlichen Kritzeleien auftritt. Die Autoren gehen demgemäß nicht von einer Beeinträchtigung neuronaler Strukturen aus, sondern machen ungeeignete Kompensationsstrategien der bewusst-willentlichen Kontrolle der Bewegungsausführung bei den Patienten als Kernursache einer weiteren Verschlechterung der vorhandenen Störungen aus. Die Autoren konnten in mehreren Experimenten feststellen, dass Kontrollstrategien des Schönschreibens nicht die Voraussetzung für die Flüssigkeit der Schreibmotorik bilden, sondern diese eher stören bzw. verhindern können. Sie konnten zunächst feststellen, dass einem flüssigen Schreiben ballistische Bewegungen zugrunde liegen, die ein glattes Geschwindigkeitsprofil mit einem glockenförmigen Geschwindigkeitsverlauf aufweisen. Nicht-flüssiges Schreiben dagegen kennzeichne sich laut der Autoren durch ein Geschwindigkeitsprofil mit mehreren Richtungswechseln. Ein solches tritt beispielsweise auf, wenn Probanden instruiert werden, zuvor geschriebene Buchstaben nachzuzeichnen. Das Beschleunigungsprofil dieses Nachzeichnens kennzeichnete sich – durch die Notwendigkeit des visuellen Abgleichs – als nicht-flüssige Bewegung in Form eines Wechsels von Abbremsen und Beschleunigen. Ein Schreiben mit geschlossenen Augen ermöglichte wieder eine vergleichsweise flüssige Schreibmotorik. Ähnliche Ergebnisse zeigten sich bei der Instruktion, sich auf ein Detail der Bewegung zu fokussieren („Stiftspitze scharf sehen“), einen Aspekt der Bewegung mental („Wann erreiche ich den höchsten Punkt“) zu verfolgen oder die Begrenzungslinien nicht zu überschreiten. Die genannten Instruktionen führten nach Ansicht der Autoren deshalb zu einer vergleichsweise unflüssigen und inkonstanten Motorik, weil durch sie ein Wechsel in ein bewusst-willentliches Kontrollieren der Bewegung eingeleitet würde. Die Instruktion besonders schön zu schreiben im Schreibunterricht mit Kindern sehen die Autoren demzufolge als kontraproduktiv an. Dagegen gelte es entgegen der vorherrschenden Praxis, Bedingungen zu schaffen, welche ein bewusst-willentliches Kontrollieren der Bewegung zurückdrängen.
In der zweiten hier anzuführenden Studie wurde mittels fMRI nach neuralen Substraten gelingenden musikalischen Improvisierens gesucht. Erfahrene Jazz-Musiker spielten entweder die Tonleiter bzw. ein Jazz-Stück oder konnten jeweils dazu improvisieren. Hierbei zeigte sich, dass es beim Improvisieren zu Deaktivierungen in weiten Bereichen des frontalen Kortex kommt. Dieser Bereich wird interessanterweise mit zielgerichtetem Verhalten und der Kontrolle und Bewertung desselben in Verbindung gebracht. Aktiviert werden dagegen der Frontalpol und sensomotorische Bereiche. Die Autoren deuten die Ergebnisse dahingehend, dass beim Improvisieren die exekutive Kontrolle eher ausgesetzt wird. Sie assoziieren die Deaktivierung des Frontalkortex mit de-fokussierter, frei-fließender Aufmerksamkeit. Der Motorik würde damit quasi freien Lauf gelassen, eigene Muster zu generieren.
In der Studie von Noy und Kollegen (2011) wird der Frage nachgegangen welche Mechanismen dem gemeinsamen Bewegungs-Improvisieren zugrunde liegen. Desweiteren der Frage, ob gemeinsames Improvisieren zu einer Verbesserung der Leistung in der Bewegung führt, und schließlich wie sich gemeinsames Improvisieren von einer Tätigkeit des Folgens einer durch einen Anführenden improvisierten Bewegung unterscheidet. Als Experimental-Paradigma wählten die Forscher das sogenannte Spiegeln oder Spiegel-Spiel, eine gängige Methode aus der Tanz-/Theater-Improvisation. Das Spiel wurde für die Untersuchung auf das Vollziehen von Hand-Armbewegungen, in einem räumlich begrenzten Rahmen reduziert: die Probanden saßen sich gegenüber und bewegten Griffe auf ca. 50 cm langen Führungsschienen. Als Probanden wurde Paare aus Improvisationsexperten (mindestens 10 Jahre Improvisationserfahrung) gebildet: Die Spieler wurden instruiert das gegenseitige Spiegeln als kollaboratives Spiel aufzufassen, mit dem Ziel, Spaß daran zu haben, gemeinsame, synchrone und interessante Bewegungen zu kreieren. Die Spielrunden unterschieden sich aber in der Strategie des Spiegelns: Einmal sollte ein Spieler dem anderen folgen, den anderen somit imitieren (Strategie des Führens und Folgens). Im anderen Fall sollten sich die Spieler gegenseitig und gleichzeitig spiegeln ohne einen festgelegten Anführer (Strategie der gemeinsamen Improvisation). Das Setting wurde so konstruiert, dass den Spielern vor jeder Spielrunde signalisiert wurde, welche Strategie sie umsetzen sollten. Unter beiden Strategien entfalteten sich komplexe Bewegungen (aufgefasst als variable Raum-Zeit Verläufe). In den Runden der gemeinsamen Improvisation zeigen die Spieler jedoch eine höhere Synchronität der Bewegungsverläufe und eine größere Variationsbreite in den Geschwindigkeiten, zudem waren die Bewegungsverläufe vergleichsweise glatt und zitterfrei. War ein Führender im Gegensatz dazu festgelegt, waren die Bewegungen des Folgenden gekennzeichnet durch ein größeres Zittern, der Bewegungsverlauf oszillierte stärker um den Verlauf des Vorgebenden und zeigte sich auch als ein zeitlich verzögertes Verfolgen. Die Bewegungen des Führenden verliefen beinahe zitterfrei, in einem - bildlich ausgedrückt - „selbstsicheren Strich“.
Deutlich wird durch diese Untersuchung, dass Improvisationsexperten unter der Strategie der gemeinsamen Improvisation eine bessere Leistung hinsichtlich der Bewegungsausführung zeigen. Novizen in der Improvisation profitierten hingegen nicht vom gemeinsamen Improvisieren: Genauso wie unter der Strategie des Führens und Folgens waren die Bewegungsverläufe durch deutliche Oszillationen gekennzeichnet.
Zu fragen wäre - auch nach Ansicht der Autoren: Welche Bedingungen und Trainingsformen dazu geeignet sind, die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, solche offenbar produktiven Zustände der Gemeinsamkeit hervorzubringen.
Hiermit vorgelegter Forschungsansatz geht von der Vermutung aus, dass die vergleichsweise besseren Anpassungsleistungen und qualitativen Leistungen bezüglich des Flusses der Bewegung auf eine Verminderung von Strategien bewusst-willentlicher Kontrolle zurückzuführen sind. Mai und Marquardt konnten wie oben beschrieben feststellen, dass ein Nachzeichnen vorgegebener Bewegungen (gezeichneter Buchstabe) durch das bewusste Abgleichen Kontrollstrategien provoziert.
Es lassen sich von diesen Befunden ausgehend Bezüge zu theoretischen Modellierungen menschlicher Bewegung herstellen, die diese als sich selbst bewegenden Prozess und nicht als Handlungsausführung konzipieren. Im vorliegenden Untersuchungsansatz werden ›Prozesse‹ als Vorgänge aufgefasst, die von selbst laufen und radikal nicht herstellbar sind. Erklärungsbedürftig ist nicht mehr, dass sie stattfinden, sondern wie oder inwiefern es zu Identitäten, Invarianzen und Ruhezuständen kommt (vgl. Schürmann 2005: 1). Die Möglichkeit des Entwurfs einer solchen prozessfokussierten Modellierung eröffnet sich mit der sogenannten Tätigkeitstheorie der Kulturhistorischen Schule der sowjetischen Psychologie (Leont’ev 1982; 2012; Temme 2015). Mit einer Modellierung von Bewegung als Prozess müssen Bewegungen nicht zuallererst hergestellt werden und durch das improvisierende Subjekt vollständig er-lenkt und durch-kontrolliert werden, um vorhanden zu sein. Die tätigkeitstheoretische Konzeption von Bewegung wiederum korrespondiert mit den kritischen Einwänden Hossners (2015) zum sportpädagogischen Begriff „Sich-Bewegens“, welches fraglos von einem Lenken der Bewegung durch das Selbst ausgeht.


Literatur

Groeben, N. & Hurrelmann, B. (2006). Empirische Unterrichtsforschung in der Literatur- und Lesedidaktik. Weinheim: Juventa.
Kelly, G. A. (1955). The Psychology of Personal Constructs. New York, Norton.
Leont'ev, A.N. (2012): Tätigkeit – Bewusstsein – Persönlichkeit (Herausg. v. G. Rückriem, übers. v. E. Hoffmann). Berlin: Lehmanns Media.
Leont’ev, A. N. (1982): Tätigkeit, Bewusstsein, Persönlichkeit. Köln: Pahl-Rugenstein.
Limb CJ, Braun AR (2008) Neural Substrates of Spontaneous Musical Performance: An fMRI Study of Jazz Improvisation. PLoS ONE 3(2): e1679. doi:10.1371/journal.pone.0001679
Mai, N. & Marquardt, Ch. (1998). Registrierung und Analyse von Schreibbewegungen: Fragen an den Schreibunterricht. In: Huber L, Kegel G, Speck-Hamdan A (Hrsg.) Einblicke in den Schriftspracherwerb. Braunschweig: Westermann.
Noy L, Dekel E, Alon U. (2011). The mirror game as a paradigm for studying the dynamics oft wo people improvising motion together. PNAS; 108: 20947–52.
Schürmann, V. (2005). Prozeß und Tätigkeit. Zur Spezifik der Tätigkeitstheorie Vortrag beim Tätigkeitstheorie-Workshop, Haus Ohrbeck, 8.-10.7.2005. Zugriff am 22. Juli. 2012 unter http://www.ichsciences.de/fileadmin/texte/schuermann05.pdf
Schürmann, V., & Temme, D. (2015). Grundannahmen von Bewegungs-Konzeptionen. in J. Bietz, R. Laging, & M. Pott-Klindworth (Hrsg.), Didaktische Grundlagen des Lehrens und Lernens von Bewegungen : bewegungswissenschaftliche und sportpädagogische Bezüge. (S. 83-99). (Bewegungspädagogik; Band 11). Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren
Temme, D. (2015). Menschliche Bewegung als Tätigkeit: Zur Irritation fragloser Gewissheiten. (Reflexive Sportwissenschaft; Band 3). Berlin: Lehmanns media.

Research method

Methodologie
Aus der Befundlage ergibt sich zum Einen die Hypothese, dass Strategien bewusst-willentlicher Kontrolle die Bewegungsqualität verschlechtern. Zum Zweiten lassen Bedingungen sich ausmachen, welche die Wahl dieser kontraproduktiv erscheinenden Kontrollstrategien entweder befördern oder vermindern können.
In drei Experimenten zu Einzel- und Gruppenimprovisation im Tanz sollen die Effekte von Strategien des Kontrollierens von Bewegung mittels Befragung und Bewegungsanalyse beleuchtet werden:

1. Vergleich der Improvisationen: erfahrene Tänzer versus Novizen
a. Expertenrating und Bewegungsanalyse (Fluss der Bewegung als Beschleunigungsprofil der Armbewegung)
b. Aufdeckung der motorischen Strategien mittels Befragung und Stimulated Recall (Groeben & Hurrelmann 2006) und dem Repertory-Grid-Verfahren (Kelly 1955)
2. Vergleich der Improvisationen unter unterschiedlichen Instruktionen bzw. Kontrollstrategien: Fokus auf Erlebnisqualität des Fließens/ Zulassen von Bewegungen versus Fokus auf einen Aspekt der Bewegung/ bewusst-willentliche Kontrolle der Bewegungsausführung)
a. Expertenrating und Bewegungsanalyse (Fluss der Bewegung als Beschleunigungsprofil der Armbewegung)
b. Aufdeckung der motorischen Strategien mittels Befragung und Stimulated Recall (Groeben & Hurrelmann 2006) und dem Repertory-Grid-Verfahren (Kelly 1955)
3. Vergleich von Gruppenimprovisation und Führen-Folgen
a. Bewegungsanalytischer Vergleich der Anpassungsleistung und des Flusses der Bewegungen
b. Aufdeckung der motorischen Strategien mittels Befragung und Stimulated Recall (Groeben & Hurrelmann 2006) und dem Repertory-Grid- Verfahren (Kelly 1955)
Short titleStrategien des Improvisierens
StatusActive
Effective start/end date22.12.15 → …